Schon in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung legt sich die spontane Begeisterung, bedingt durch hohen finanziellen Einsatz der alten Bundesländer und wachsende Arbeitslosigkeit in den neuen. Soziale Probleme führen zu einem Mitgliederanstieg bei politischen Extremgruppierungen. Bis zur Jahrtausendwende scheint die „Mauer in den Köpfen" vieler Deutscher noch nicht gefallen zu sein. Die Frage nach der eigenen politischen, gesellschaftlichen und weltanschaulichen Identität wird diskutiert. Probleme bereitet auch der Umgang mit den Stasi-Akten.
Wende und Wiedervereinigung wirkten sich zunächst vor allem auf die Literaturproduktion und die Rezeptionsbereitschaft in den neuen Bundesländern, dem ehemaligen „Leseland DDR", aus. Das Ende staatlicher Bevormundung, Kontrolle und Überwachung führte den literarischen Markt in heftige Turbulenzen. Er wurde von Verlagsauflösungen, -neugründungen und -Umstrukturierungen, von Rehabilitierung ehemals ausgeschlossener Autoren, aber auch von Schuldzuweisungen (vgl. den so genannten deutschen Literaturstreit um Christa Wolf) geprägt.
Viele Werke beschäftigen sich mit der DDR-Vergangenheit (vgl. Wolfgang Hilbig: Ich, 1993; Thomas Brussig: Helden wie wir, 1995; Günter de Bruyn: Vierzig Jahre, 1996; Christoph Hein: Von allem Anfang an, 1997). Petra Morsbachs Roman Plötzlich war es Abend (1995), der den armseligen Alltag einer einfachen Leningraderin darstellt, beschreibt eindringlich das Leben der Menschen im Ostblock. Während hier durch die Perspektivenwahl erzählerische Distanz möglich wird, sind in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen (1996) persönliche Betroffenheit und Rechtfertigungsabsichten zu spüren. Verschiedene Werke zeigen die Tendenz zur Anekdote (Erzählungen von Wolfgang Hilbig und Christoph Hein), zum Schelmenroman (Thomas Brussig: Helden wie wir), zur Groteske (Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks, 1995) und zur Klage (Dieter Krause: Vergleichen Sie ihre goldgelbe Haut im Spiegel, 1998).
Um Schuld und Vergangenheit kreist Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995). Der im gleichen Jahr erschienene Roman Morbus Kitahara von Christoph Ransmayr liefert eine düstere Welt-Utopie, nach der eine positive menschliche Entwicklung nicht möglich ist. Damit reiht er sich in eine österreichische Literaturtradition, die immer wieder Fragen der Schuld, Heimatlosigkeit, Verzweiflung und Vergänglichkeit thematisiert und sich einer heilen Heimatidylle verweigert (vgl. Peter Rosei: Bei schwebendem Verfahren, 1973; Josef Haslinger: Opernball, 1995; Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten, 1995).
Hoffnungslosigkeit, Beschäftigung mit der Vergangenheit (vgl. die Lyrik von Jürgen Becker: Foxtrott im Erfurter Stadion, 1993; Wulf Kirsten: Stimmenschotter, 1993; Günter Kunert: Erwachsenenspiele, 1997), Mythisches (Helga M. Novak: Silvatica, 1997) und antike Sagenwelt (Christa Wolf: Medea. Stimmen, 1996; Botho Strauß: Ithaka, 1996) zeigen am Ende eines Jahrtausends Bestandsaufnahmen, Fluchtversuche und Zukunftspessimismus.
Mit Nachwuchsautoren wie Benjamin Lebert, Thomas Brussig, Thomas Lehr, Karen Duve, Judith Hermann, Zoe Jenny und Benjamin von Stuckrad-Barre - im Spiegel (41/Okt. 99) als „die Enkel von Grass & Co." bezeichnet - scheint sich gegenwärtig ein Aufbruch in der deutschen Literatur abzuzeichnen. Die Werke dieser neuen Dichtergeneration finden bei Publikum und Literaturkritik im In- und Ausland großen Anklang. Die die deutsche Literatur seit 1945 dominierenden Themen wie die deutsche Schuld, Anklage und Selbstanklage bleiben hier außen vor, stattdessen gehen diese jungen Autoren ihrer ureigensten Aufgabe nach: Lustvoll und unbekümmert erzählen sie Geschichten und eröffnen so einen neuen Blick auf den Menschen und die Welt.
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