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Die deutschsprachige Literatur im Westen (1945-1990)

 

Hintergrund

Weltpolitisch stehen die Jahre nach 1945 unter einem zunehmenden Ost-West­Gegensatz. Deutschland wird geteilt. 1949 entstehen die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik. Berlin bekommt eine Sonderstellung, Öster­reich wird neutral. Während sich in den folgenden Jahren im Westen eine demo­kratische Gesellschaft ausbildet, gerät der Osten immer stärker in Abhängigkeit von der Sowjetunion und ihrem kommunistischen System. Fortan bestimmen Kalter Krieg und atomares Wettrüsten die Weltpolitik. Erst der drohende wirt­schaftliche Zusammenbruch der Sowjetunion bringt eine Entspannung, die 1989 zum Fall der Mauer und 1990 zur Wiedervereinigung führt. Im Verlauf ihrer jungen Geschichte hat sich die Bundesrepublik im Inneren mit teilweise massiven Problemen auseinander zu setzen (Wiederbewaffnung, Studentenunruhen, APO, Terrorismus, Nachrüstung). Das Problem der steigenden Arbeitslosigkeit konnte bis heute nicht bewältigt werden.

Die westliche Gesellschaft ist durch Pluralismus, Kapitalismus, Leistungsdenken, Pragmatismus und Konsumorientiertheit geprägt. Kommunikationssysteme ver­binden jeden Winkel der Welt. In der Multimedia-Gesellschaft explodiert das Informationsangebot. Viele Menschen fühlen sich vom Nachrichten-, Wissensund Sensationsangebot überfordert. Gegen Überblicksverlust und Bewertungs­schwierigkeiten bieten die Medien bereits Leit- und Weltbilder an, hinter denen sich moderne Machtinteressen verbergen.

Auf kulturell-weltanschaulicher Ebene bestimmen unter anderem folgende The­men die Auseinandersetzung: Holocaust, Werteverlust, Probleme der Massen­gesellschaft, Bedrohung durch technischen Fortschritt, Informationsüberflutung.

Wie kann das Leben angesichts des Transzendenz- und Werteverlusts, des Holo­causts, der Selbstentfremdung, Isolation und Verzweiflung ertragen werden?

- Diese Frage, von der jüngeren Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ge stellt, versucht der französische Existenzialismus zu beantworten. Nach Sartre ist der Mensch dann frei, wenn er sich zum Handeln entscheidet und zu diesem bekennt (vgl. Die Fliegen). Für Camus kann die absurde Welt nicht verstanden werden. Freiheit und Würde erlangt der Mensch, wenn er das Sinnlose hinnimmt, aber gleichzeitig einen inneren Abstand als eine Form des Protests zu ihm schafft (Der Mythos von Sisyphus).

- Die kritischen Gesellschaftsvorstellungen der „Frankfurter Schule" (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas) liefern theoretische Grundlagen für die studentische Protestbewegung und für Stim men, die sich gegen das Establishment erheben.

- Für Ludwig Wittgenstein sind die „Grenzen meiner Sprache die Grenzen mei ner Welt". Erkenntnis und Wirklichkeit hängen damit von den Möglichkeiten der Sprache ab. Basil Bernstein stellt die später umstrittene These über den Zusammenhang von Sprache und sozialer Schicht auf.

Literarisches Leben

Das literarische Leben wird seit 1945 von verschiedenen Faktoren beeinflusst.

Die wichtigsten sind:

- der geistige Nachholbedarf, wie er sich im Bekenntnis zu literarischen Tra ditionen (Klassik, Realismus, Expressionismus) und im Interesse an west licher Literatur (Hemingway, Saint-Exupery) zeigt,

- die Rolle der zurückkehrenden Emigranten (einschließlich eines Streits über die Bewertung der Emigration und der inneren Emigration),

- Papierknappheit und wachsende Bedeutung von Zeitungen (Kurzgeschichte!) und Rundfunk (Hörspiel!),

- Autoren-Gruppen (besonders: „Gruppe 47", „Gruppe 61", „Werkkreis Litera tur der Arbeitswelt"),

- wiederholte Versuche einer Standortbestimmung von Literatur, die von einer ersten Bestandsaufnahme (Günter Eich: Inventur, 1947) bis zur Postmoderne reichen (vgl. Peter Handkes „Elfenbeinturm" einerseits und das politische Engagement Heinrich Bölls und Günter Grass' andererseits),

- eine fragwürdige Bildungsreform (Analyse von Werbetexten statt Klassiker­Lektüre),

- literarische Experimente (z. B. die konkrete Poesie),

- das Verhältnis zwischen BRD- und DDR-Autoren,

- die wachsende Informationsflut in der Multimedia-Gesellschaft.

Das wirtschaftlich orientierte Denken der westlichen Demokratien beeinflusst

Kultur und Kunst. Zunehmend wird die Literaturproduktion nach pragmatisch­kapitalistischen Maßstäben ausgerichtet. Das bedeutet:

- für das Verlagswesen: Großverlage setzen sich gegenüber Kleinverlagen durch. Ihre Marktanalysen und ihr kapitalintensiver Werbeeinsatz für publikums wirksame Werke bestimmen den Literaturmarkt. Große Medienkonzerne ent stehen. Kleinere Verlage versuchen sich zu spezialisieren, um überleben zu können. Wer unbekannte Autoren verlegt, geht ein erhebliches Risiko ein.

- für den Autor: Der Druck gewinnorientierter Verlage wächst. Der finanziell abhängige Autor ist durch Vorgabe von Arbeitszeiten und Themen eingeengt.

- für das Publikum: Eine aufwändige Werbung der Medienkonzerne vermittelt, was ihm zu gefallen hat. Die Kurzlebigkeit der literarischen Mode fördert die

permanente Nachfrage und damit das Geschäft. Angesichts der wachsenden Buchproduktion geht der Überblick verloren. Literaturkritiker sind gefordert. - für die Kunst: Am günstigsten ist es, wenn es gelingt, das Publikum für Qualität zu begeistern. Romane, die verfilmbar sind, haben dabei weit bessere Chancen als Dramen oder gar Gedichte, denn sie können einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden und führen so zu einem höheren Absatz. Im lyrischen Bereich setzen sich kurzlebige Texte durch, die für den Liedermarkt der Schlager- und Pop-Szene geschrieben sind, und in der Regel keine Qualität beanspruchen

Inwieweit das Zeitalter des Buches („Gutenberg-Zeitalter") durch CD-ROM und Cyberspace abgelöst wird, bleibt der Zukunft vorbehalten.

Theorie

In der Moderne gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Äußerungen zur Poetik. Wichtige Ansätze liefern die Vertreter der marxistisch-materialistischen (Lukäcs), der phänomenologischen (Heidegger) und der kommunikationstheoretisch-lin­guistischen (Saussure) Richtung. Etliche Schriften weisen auf den Experimental- charakter moderner Kunst (so Arbeiten von Broch und Musil). Ernst Bloch orientiert die Kunst am Utopischen, an der Beschreibung des Möglichen, aber noch nicht Geleisteten. Adornos dialektische Ästhetik versucht den Doppelcha­rakter der Kunst aufzuzeigen. Kunst ist zwar gesellschaftlich bedingt, wendet sich aber gegen die Gesellschaft. Heidegger sieht als Aufgabe der Kunst, das anwesende, aber verborgene Sein zu verdeutlichen. Umberto Eco, von der Zeichen- und Informationstheorie beeinflusst, betont die Offenheit und Vieldeutigkeit des Kunst­werks. Das Wissen um das Rätselhafte der Kunst, das sich jedem Zugriff zu ent­ziehen scheint, darf als Beleg für Existenz und Freiheit der Kunst gewertet werden.

Autoren, Werke, Themen, Gattungen

Epik

Etliche Romane, die unmittelbar nach dem Krieg in Deutschland erschienen, waren schon im Exil verfasst und im Ausland publiziert worden, so Das siebte Kreuz, von Anna Seghers (Mexiko 1942, Berlin 1946), Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse (Zürich 1943, Berlin 1946) und Stalingrad von Theodor Plivier (Moskau 1943/44, Berlin 1946). In Deutschland veröffentlichte 1946 Hermann Kasack Die Stadt hinter dem Strom und im gleichen Jahr erschien Elisabeth Langgässers Das unauslöschliche Siegel. Zeitkritik wird deutlich, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen: Geht es Plivier um Dokumentation, Realitätsdar-

Stellung und Entmythologisierung, so fragen Kasack und Langgässer nach den Ursachen des Bösen, die in Technisierung und Glaubenslosigkeit gesehen werden. Der Rückzug aus einer inhuman gewordenen Welt wird bei Hesse beschrieben, am Ende erscheint diese Fluchtmöglichkeit jedoch infrage gestellt. In der Nachkriegszeit übernimmt die Kurzgeschichte die Stelle der Novelle. Als Vertreter gelten Böll, Borchert, Weisenborn, Aichinger, Schnurre, Langgässer. Die Romane der 50er-Jahre versuchen die Vergangenheit aufzuarbeiten und sich mit der aktuellen gesellschaftlichen Gegenwart auseinander zu setzen. Böll, Koeppen, Andersch, Frisch, Martin Waiser und Grass stehen hier repräsentativ. Der Tenor ist häufig pessimistisch. Krieg und nationalsozialistische Vergangenheit bleiben weiter Thema, dazu kommt die Frage nach der Position des Menschen im technischen Zeitalter und die Sorge um die Entwicklung der bundes­republikanischen Gesellschaft. Das Individuum glaubt, als Nonkonformist nur am Rande der Etablierten eine Lebensmöglichkeit zu sehen. Diese Themen werden in den 60er-Jahren weitergeführt (vgl. Böll: Ansichten eines Clowns) und um die Problematik des geteilten Deutschlands erweitert (Uwe Johnson). Allerdings entsprechen Form und Inhalt des modernen Romans oft nicht den Erwartungen der Öffentlichkeit. Breite Leserschichten bevorzugen eine traditionelle, geradlinige Erzählform, d. h. Romane, die inhaltlich die Sehnsüchte der Masse widerspiegeln, und Figuren, die eine leichte Identifikation erlauben. So gewinnt ein Schrifttum an Bedeutung, das mit geringen Ansprüchen, aber gefördert durch intensive Werbung, eine überaus große Resonanz findet: der Bestseller. In den 70er-Jahren scheint die Krise des Romans überwunden, man spricht von einer „Tendenzwende". „Neue Subjektivität" und „Neue Innerlichkeit" sollen -den Neubeginn signalisieren. Rückzug auf das Private (vgl. Karin Struck: „Das Starren auf die Außenwelt hat die Innenwelt verwaisen lassen."), eigenes Schicksal und die Spiegelung eigener Zustände in anderen Figuren werden thematisiert (vgl. Karin Struck: Die Mutter, 1975; Gabriele Wohmann: Frühherbst in Badenweiler, 1978). In der Beschäftigung mit sich selbst sieht man nicht eine Flucht, vielmehr eine Möglichkeit des Widerstandes, der Selbsterhaltung (vgl. Wohmann: Selbstverteidigung, 1971). Offen bekennt sich Peter Handke zu einem Rückzug in den Elfenbeinturm. Nicht von ungefähr hat er daher auf Hermann Lenz ver­wiesen, der eindeutig und unverkennbar mit seinem Werk der Aktualität absagt. Neben diesem Rückzug steht die dokumentarische Literatur (Günter Wallraff), die aber in Gefahr gerät, an Poetischem zu verlieren.

Die 80er- und frühen 90er-Jahre stehen bald unter einem neuen Schlagwort: Postmoderne. Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (1980, deutsch 1982) wird zu einem Schlüsselwerk. Ecos Roman ist eine ins Mittelalter verlegte Kri­minalgeschichte, gleichzeitig eine Anspielung auf italienische Zeitverhältnisse (Affäre Aldo Moro) und Diskussionsforum für wissenschaftstheoretische Prob­leme. Damit wird die Tendenz klar: Vielfalt der Themen, Motive, Perspektiven und Deutungsmöglichkeiten. Der Leser sieht sich durch Anspielungen und Zitate angeregt. Die Figuren der Postmoderne sind Außenseiter, oft mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Der Verschränkung und Vieldeutigkeit von Themen, Motiven und Erzähltechniken entspricht die sprachliche Gestaltung. Bei Eco ver­mischen sich Hochsprache, Umgangssprache, Latein und Geheimzeichen. Was heißt Postmoderne? - Vermischung von Vergangenem und Gegenwärtigem, Intellektuellem und Trivialem, Geistigem und Sinnlichem.

In Deutschland erscheinen Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (1983), Patrick Süskinds Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders (1985), 1988 Chris­toph Ransmayrs Die letzte Welt, 1992 Robert Schneiders Schlafes Bruder. Der 1995 verlegte Roman Ein weites Feld von Günter Grass wird von der Literatur­kritik zwiespältig aufgenommen. 1999 erhält Grass den Nobelpreis für Literatur.

Drama

Die deutschen Dramatiker hatten es während des Dritten Reiches schwerer als die Vertreter der beiden anderen Gattungen, da sie mit ihren Werken auf eine Bühne angewiesen waren und Aufführungen in Deutschland nicht, im Exil kaum möglich waren. Unmittelbar nach dem Krieg konzentrieren sich die Theater häufig auf klassische Stoffe (Iphigenie, Nathan), aber auch moderne ausländische Autoren, wie Wilder, Williams, Giraudoux, Sartre und Anouilh wurden gespielt. Zwei deutsche Werke bestimmten die frühe Zeit: Zuckmayers Des Teufels General (1946) und Borcherts Draußen vor der Tür (1947). Besondere Bedeutung gewann nach dem Krieg auch das Hörspiel, das bereits in der Weimarer Zeit eine erste Blüte erlebt hatte (Bordiert, Weyrauch, Eich, Bachmann). In der Folgezeit werden neben Brecht, der am Berliner Ensemble sein episches Theater aufführt, Dürrenmatt und Frisch bedeutsam. Sie unterscheiden sich bereits in ihrer Intention von Brecht. Während dieser eine Veränderung der Gesellschaft im Sinne des marxistischen Sozialismus anstrebt, fehlt bei den Schweizern die ideologische Absicht. Beide glauben nicht mehr an eine Veränderbarkeit der Welt mithilfe des Theaters. Während Frisch mit seinen Parabelstücken noch eine Verhaltensänderung beim Betrachter erzeugen will, zeigen die grotesken Stücke Dürrenmatts nur mehr die Widersinnigkeit der Welt. In den 60er-Jahren tritt das dokumentarische Theater in den Vordergrund. Es will betont mit objektivem Quellenmaterial arbeiten, lehnt dichterische Erfindung ab und setzt sich die Entschleierung der Wahrheit zum Ziel (vgl. Peter Weiss, Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt). Neben dem Dokumentartheater beginnt 1966 mit Martin Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern das neue Volksstück, das sich mit Werken von Franz Xaver Kroetz in den 70er-Jahren durchsetzt. Eine deutliche Konfrontation mit dem herkömmlichen Theater sucht Peter Handke. Seine Pub­likumsbeschimpfung (1966), in der es weder Auftritte, noch Dialoge, noch ein Bühnenbild gibt, widerspricht der Publikumserwartung.

Eine Dramenform, die sich ebenfalls vom herkömmlichen Theater abwendet, ist das absurde Theater. Die Sinnlosigkeit der Welt bedingt den Verzicht auf einen logischen Handlungsablauf, klärende Dialoge und Lösungen. Die Personen ver­harren in Kontaktlosigkeit, sie reden aneinander vorbei, alles bleibt offen. Bekannt sind Samuel Becketts Warten aufGodot und Eugene lonescos Die Nashörner.

Lyrik

1949 stellt Adorno die Behauptung auf, dass es nach Auschwitz unmöglich sei, Gedichte zu schreiben: Die dichterische Sprache habe durch ihren Einsatz für die NS-Diktatur an Glaubwürdigkeit verloren; nach der unfassbaren Grausamkeit der Hitlerdiktatur sei das Gedicht als ästhetische Ausdruckform nicht mehr vertretbar. In diesem Sinne macht Günter Eich Bestandsaufnahme in seinem viel zitierten Gedicht Inventur (1946), in dem alltägliche Dinge nüchtern aneinander gesetzt werden. Der Dichter muss äußerst behutsam mit der Sprache umgehen, sozusagen nach der Katastrophe erst wieder buchstabieren lernen. Wichtig für das Verständnis der Lyrik wurde Gottfried Benns Marburger Rede über Lyrik (1951), in der er in der Dichtung eine Möglichkeit sieht, Wirklichkeit zu schaffen und so Chaos und Nihilismus zu entgehen. Wilhelm Lehmann und Peter Huchel sehen in der Naturlyrik die Möglichkeit einer neuen Wirklichkeitsorientierung. Karl Krolow hat darauf aufmerksam gemacht, wie in der deutschen Naturlyrik das individuelle Ich sich gegenüber der Natur fortgesetzt zurücknimmt. Einen Neuansatz im Ringen um die Sprache versucht die Österreicherin Ingeborg Bachmann (1926-1973). Sie bemüht sich um eine vieldeutige Metaphorik, neue, oft paradoxe Kombinationen, wo traditionelle Bilder fragwürdig und verbraucht erscheinen (Die gestundete Zeit, 1953, Anrufung des großen Bären, 1956). In den Gedichten von Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) verbinden sich christliche Humanität mit moderner Existenzangst (Neue Gedichte, 1957). Das schreckliche Leid der verfolgten und ermordeten Juden haben vor allem Nelly Sachs (1891-1970; In den Wohnungen des Todes, 1947, Flucht und Verwandlung, 1959, Flucht ins Staublose, 1961) und Paul Celan (1920-1970; Sprachgitter, 1959, Die Niemandsrose, 1963) angesprochen. Die Schwierigkeit, es in Worte zu fassen, führte zum maximal verschlüsselten, dunklen, „hermetischen" Gedicht. Die politische Lyrik nimmt z. T. das Erbe von Brecht, Tucholsky und Erich Kästner aus den 20er-Jahren wieder auf (Enzensberger: Landessprache, 1960, Fried: und Vietnam und, 1966). Diese Phase hält jedoch nur kurz an. Als Zwischenspiel lässt sich auch die konkrete Poesie bezeichnen. Sie beginnt mit Eugen Gomringers Konstellationen (1953). Die Gedichte sind Sprachexperimente, die sich an die bildende Kunst anlehnen und frühe Vorbilder bereits in der Barocklyrik haben. Die Lyrik der 70er-Jahre versucht, in einfacher und unverschnörkelter Sprache Augenblickserlebnisse festzuhalten, wobei das Ich wieder in den Vordergrund tritt (Neue Subjektivität; vgl. Karin Kiwus, Ursula Krechel).

Übersicht: Die deutschsprachige Literatur im Westen

Hintergrund

politik: Kapitulation (1945), Gründung der BRD und der DDR (1949), Blockbildung, Kalter Krieg, Wiedervereinigung (1990); innenpolitische Probleme: Wiederbewaffnung, Studentenbewegung, Terrorismus, Arbeitslosigkeit

gesellschaft: demokratisch, pluralistisch, kapitalistisch; Multimedia-Gesellschaft

kultur, weltanschauung: Vergangenheitsbewältigung, Technikentwicklung, Selbstentfremdung; Existenzialismus, Frankfurter Schule, Wittgenstein

Literarisches Leben

beeinflussende faktoren: westliche Literatur, Zeitungen und Rundfunk, Autoren-Gruppen, „Elfenbeinturm" und politisches Engagement, Informationsflut

buch als ware: Verlage: Großverlage, Buchgemeinschaften, Medienkonzerne; Autor: wachsender Erfolgsdruck; Publikum: Orientierung an lit. Moden; Kunst: oft Quantität vor Qualität, Bestseller, Trivialliteratur

Theorie

marxistische, phänomenologische, kommunikationstheoretische Ansätze; Experimentalcharakter moderner Kunst; Dialektik der Kunst: Adorno; Offenheit des Kunstwerks: Eco

Autoren, Werke,

Themen,

Gattungen

epik: Exil- und Nachkriegsliteratur: Zeitkritik, Fluchtmöglichkeiten: Seghers, Hesse, Plivier, Langgässer; Kurzgeschichte 50er- Jahre: Vergangenheitsbewältigung, Mensch im techn Zeitalter, Nonkonformismus: Böll, Koeppen, Andersch, Frisch, Grass 60er- Jahre: Zeitkritik: Böll; geteiltes Deutschland: Johnson 70er- Jahre: Neue Subjektivität, Neue Innerlichkeit: Struck, Wohmann; Rückzug: Handke, Dokumentation: Wallraff 80er-, 90er- Jahre: Postmoderne: Nadolny, Süskind, R. Schneider drama: Nachkriegszeit: Klassik, ausländische Moderne; Zuckmayer, Borchert; Hörspiel: Weyrauch, Eich 50er- Jahre: episches Theater: Brecht; Parabelstücke: Frisch, Groteskes: Dürrenmatt 60er- Jahre: dokumentarisches Theater: Weiss, Hochhuth, Kipp-hardt; Volksstück: Fleißer, Horväth, Kroetz; absurdes Theater

lyrik: Nachkriegszeit: Bestandsaufnahme: Eich 50er- Jahre: Kunst gegen Chaos: Benn; Naturlyrik: Lehmann, Huchel, Krolow; Konkrete Poesie: Gomringer, Jandl 60er-Jahre: hermetisches Gedicht: Sachs, Celan, Eich; politische Lyrik: Enzensberger, Fried, Degenhardt 70er- Jahre: Augenblickslyrik, Neue Subjektivität: Kiwus, Krechel

Die Literatur der DDR (1945-1990)

 

Hintergrund

Die theoretische Grundlage der DDR-Literatur bildete der sozialistische Realismus (künstlerische Richtung, die seit dem Allunionskongress der Schriftsteller in Moskau 1934 verbindlich für die sowjetischen Autoren war. Kennzeichen: marxistische Grundlage, Einsatz für die von der kommunistischen Partei geführte Arbeiterklasse, Aufzeigen der revolutionären Entwicklung, Erziehung des Pub­likums im sozialistischen Sinn, positiver Held, realistische Zeiterfassung, optimis­tische Zukunftsperspektive).

In Deutschland hatte sich 1928 der „Bund Proletarisch-Revolutionärer Schrift­steller" (BPRS) gegründet. Seine Mitglieder nahmen die Ideen des sozialistischen Realismus auf und suchten sie in ihren Exilwerken zu verwirklichen. Zwischen dem Cheftheoretiker des BPRS, Georg Lukäcs, und Brecht kam es zur sog. Expres­sionismusdebatte. Während Lukäcs die sozialistische Literatur in der Tradition der Klassik und des bürgerlichen Realismus sah, trat Brecht für moderne, experi­mentelle Literatur ein. Lukäcs forderte ein harmonisch abgerundetes Kunstwerk, das Typisches (gesellschaftliche Klassenprobleme) im Besonderen (Leben des Einzelnen) widerspiegeln soll. Neue Darstellungsformen wie Montage, Reportage und Verfremdung wurden als Formalismus kritisiert und abgelehnt.

Literarisches Leben

Die Literaturschaffenden waren in der DDR niemals frei. Bereits in der Besatzungs­zeit bestimmte die Sowjetische Militäradministration, welches Werk gedruckt werden durfte. Sozialistisch orientierten Autoren, die aus dem Krieg zurückkehr­ten, wurden kulturelle Aufgaben übertragen (Johannes R. Becher, Anna Seghers, Bertolt Brecht). Nach der Gründung der DDR kontrollierten und überwachten staatliche Stellen die Schriftsteller. Schon früh wird deutlich, dass die Partei die Literatur als ein Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele betrachtet. Wer sich der offiziellen Kulturpolitik fügt und bereit ist, die Menschen sozialistisch­ideologisch zu beeinflussen, wird gefördert. Wer andererseits künstlerische Selbst­ständigkeit reklamiert, wird kritisiert, als reaktionär verteufelt und seine Werke bleiben unveröffentlicht.

Dem, der sich nicht anpassen will, bleibt nur die Emigration. Bereits in den 50er- und 60er-Jahren verlassen die DDR: Horst Bienek, Ernst Bloch, Peter Huchel, Uwe Johnson, Heinar Kipphardt, Christa Reinig. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns (1976) kommt es zu einer größeren Ausreisewelle. Zu ihr gehören Sarah Kirsch, Günter Kunert, Reiner Kunze, Erich Loest.

Entwicklung, Autoren, Themen

In der ersten Hälfte der 50er-Jahre versuchen parteikonforme Autoren den Aufbau des Sozialismus positiv zu beschreiben (sog. „Aufbau-Literatur"). Sie zeigen Helden, die die sozialistische Idee gegen alle Hindernisse zum Sieg führen und Optimismus verbreiten. Auch das Theater steht im Dienst der politischen Ziel­setzung. Es bringt Figuren auf die Bühne, die im Arbeitsprozess stehen und den Weg zum Sozialismus vorantreiben sollen. Die führende Figur im Theaterleben ist Brecht, der 1948 aus den USA zurückkehrte. In Ostberlin baut er das „Berliner Ensemble"" auf, dessen Leitung seine Frau Helene Weigel übernimmt. Nach Brechts Tod 1956 wirken seine Vorstellungen weiter, so bei Heiner Müller. Die zweite Hälfte der 50er-Jahre zeigt den Unwillen der Partei gegenüber nicht linientreuen Autoren. Literarische Experimente in Anlehnung an Kafka und moderne amerika­nische Autoren werden öffentlich verworfen. Der bekannteste Roman dieser Jahre ist Bruno Apitz' (1900-1979) Nackt unter Wölfen (1958), der authentisches Geschehen im KZ Buchenwald thematisiert. 1959 wird auf der Bitterfelder Kon­ferenz ein Programm entworfen (der sog. „Bitterfelder Weg"), das die führende Position der SED im Kulturbereich betont und den sozialistischen Realismus als Kampfmittel gegen moderne Entwicklungen fordert. Arbeiter sollen sich verstärkt literarisch betätigen und den sozialistischen Aufbau in Industrie und Landwirt­schaft beschreiben (Parole: „Greif zur Feder, Kumpel!"1). Umgekehrt sollen Berufs­autoren den Weg zum Arbeiter finden (Parole: „Dichter in die Produktion!"). Es kommt jedoch nicht zur Entstehung einer Arbeiterliteratur. Auf der zweiten Bit­terfelder Konferenz 1964 wird das Scheitern indirekt zugegeben. Die Epik der 60er-Jahre steht unter dem Begriff „Ankunftsliteratur" (nach dem Titel des Romans Ankunft im Alltag von Brigitte Reimann, 1961). Sie schafft Helden, die sich im Verlauf eines Bildungsprozesses in die sozialistische Gesellschaft eingliedern. Neben klischeehaft schematisierten Werken finden sich auch anspruchsvollere Arbeiten (Erwin Strittmatter: OleBienkopp, 1963). Viele jüngere Autoren, teilweise in der Brecht-Tradition stehend, beginnen in den 60er-Jahren Gedichte zu veröffentlichen, in denen Persönliches, etwa die Sehnsucht nach Glück und Geborgenheit, immer wieder anklingt. Daneben findet sich Satiri­sches, aber auch Pessimistisches. Die Resonanz ist gewaltig. Zu nennen sind: Wolf Biermann, Johannes Bobrowski, Volker Braun, Sarah Kirsch, Reiner Kunze. Das Drama steht zwar weiterhin unter den Vorgaben der Partei, doch Tendenzen zur Darstellung persönlicher Bedürfnisse, teilweise mythisch eingekleidet, sind erkennbar (Peter Hacks: Amphitryon, 1967; Adam und Eva, 1972). Eine Erzählung, die auch im Westen ein großes Echo hatte, ist Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1972). Der Lehrling Edgar Wibeau bricht seine Ausbildung ab und zieht als Außenseiter in ein Gartenhaus. Er hat eine Beziehung zur Verlobten eines etablierten Zeitgenossen. Die Lektüre von Goethes Die

Leiden des jungen Werthers vermittelt ihm Parallelen zu seinem eigenen Leben. Beim Testen einer selbst erfundenen Farbspritzpistole kommt er ums Leben. Das Werk entfachte in der DDR eine lebhafte Diskussion um die Aufgaben von Kunst und Literatur. Wibeaus Verhalten, seine Unangepasstheit, sein schnodd­riger Jugendjargon und die Möglichkeit, dass seine „Leiden" die Verfassung einer ganzen Generation spiegeln, riefen ablehnende Politikerstimmen auf den Plan. Unangepasste Figuren bringt auch Volker Braun auf die Bühne. In Freunde (1971) und Hinze und Kunze (1979) kritisiert er überzogene Forderungen an die Arbeiter im Arbeitsprozess. Der mit einigen DDR-Preisen bedachte Christoph Hein wird durch den Erfolg seiner Novelle Der fremde Freund, die in der Bundesrepublik unter dem Titel Drachenblut (1982) erscheint, bekannt. Eine Autorin, die wiederholt in die öffentliche Kritik geriet, ist Christa Wolf (geb. 1929). Das SED­Mitglied stieß mit seinen Werken Der geteilte Himmel (1963), Nachdenken über Christa T. (1968) und Kindheitsmuster (1976) auf deutliche Vorbehalte der Partei. Nach der Wende entfachte Wolfs Erzählung Was bleibt (1990) einen Literaturstreit in Deutschland. Man warf der Autorin Opportunismus vor.

Übersicht: Die Literatur der DDR

Hintergrund

Sozialistischer Realismus (in der Sowjetunion: 1934); Expressionismusdebatte (1937/38): Gegensatz zwischen Lukäcs (für traditionelle Lit.) u. Brecht (für moderne experimentelle Lit.)

Literarisches Leben

Besatzungszeit: Literatur unter sowjetischer Kontrolle; DDR: Literatur unter Kontrolle der SED; Repressalien gegen kritische Autoren; Emigration von Autoren in den Westen; 1976: Ausbürgerang W. Biermanns; Folge: Ausreisewelle

Entwicklung,

Autoren,

Themen

50ER-JAHRE: „Aufbau-Literatur": optimistisches Bild vom Sozialismus; Absage an literarische Experimente, Vorgehen gegen nicht linientreue Autoren; B. Apitz: Nackt unter Wölfen', ,3itterfelder Weg": Arbeiter als Autoren, Autoren in die Produktion 60er-jahre:

„Ankunftsliteratur": Eingliederung in die sozialistische Gesellschaft als Bildungsprozess; E. Strittmatter: Öle Bienkopp; Lyrik: Sehnsucht nach Menschlichem

ab 70ER- jahre: Diskussion über die Aufgaben der Kunst, ausgelöst durch: - Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. - Christa Wolf: Kindheitsmuster — Volker Braun: Freunde, Hinze und Kunze - Christoph Hein: Der fremde Freund 1 Drachenblut

Aspekte der Literatur seit 1990

 

Hintergrund

Schon in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung legt sich die spontane Begeisterung, bedingt durch hohen finanziellen Einsatz der alten Bundesländer und wachsende Arbeitslosigkeit in den neuen. Soziale Probleme führen zu einem Mitgliederanstieg bei politischen Extremgruppierungen. Bis zur Jahrtausendwende scheint die „Mauer in den Köpfen" vieler Deutscher noch nicht gefallen zu sein. Die Frage nach der eigenen politischen, gesellschaftlichen und weltanschaulichen Identität wird diskutiert. Probleme bereitet auch der Umgang mit den Stasi-Akten.

Literarisches Leben

Wende und Wiedervereinigung wirkten sich zunächst vor allem auf die Literatur­produktion und die Rezeptionsbereitschaft in den neuen Bundesländern, dem ehe­maligen „Leseland DDR", aus. Das Ende staatlicher Bevormundung, Kontrolle und Überwachung führte den literarischen Markt in heftige Turbulenzen. Er wurde von Verlagsauflösungen, -neugründungen und -Umstrukturierungen, von Rehabi­litierung ehemals ausgeschlossener Autoren, aber auch von Schuldzuweisungen (vgl. den so genannten deutschen Literaturstreit um Christa Wolf) geprägt.

Entwicklung, Autoren, Themen

Viele Werke beschäftigen sich mit der DDR-Vergangenheit (vgl. Wolfgang Hilbig: Ich, 1993; Thomas Brussig: Helden wie wir, 1995; Günter de Bruyn: Vierzig Jahre, 1996; Christoph Hein: Von allem Anfang an, 1997). Petra Morsbachs Roman Plötzlich war es Abend (1995), der den armseligen Alltag einer einfachen Leningraderin darstellt, beschreibt eindringlich das Leben der Menschen im Ost­block. Während hier durch die Perspektivenwahl erzählerische Distanz möglich wird, sind in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen (1996) persönliche Betrof­fenheit und Rechtfertigungsabsichten zu spüren. Verschiedene Werke zeigen die Tendenz zur Anekdote (Erzählungen von Wolfgang Hilbig und Christoph Hein), zum Schelmenroman (Thomas Brussig: Helden wie wir), zur Groteske (Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks, 1995) und zur Klage (Dieter Krause: Vergleichen Sie ihre goldgelbe Haut im Spiegel, 1998).

Um Schuld und Vergangenheit kreist Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995). Der im gleichen Jahr erschienene Roman Morbus Kitahara von Christoph Ransmayr liefert eine düstere Welt-Utopie, nach der eine positive menschliche Entwicklung nicht möglich ist. Damit reiht er sich in eine österreichische Litera­turtradition, die immer wieder Fragen der Schuld, Heimatlosigkeit, Verzweiflung und Vergänglichkeit thematisiert und sich einer heilen Heimatidylle verweigert (vgl. Peter Rosei: Bei schwebendem Verfahren, 1973; Josef Haslinger: Opernball, 1995; Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten, 1995).

Hoffnungslosigkeit, Beschäftigung mit der Vergangenheit (vgl. die Lyrik von Jürgen Becker: Foxtrott im Erfurter Stadion, 1993; Wulf Kirsten: Stimmen­schotter, 1993; Günter Kunert: Erwachsenenspiele, 1997), Mythisches (Helga M. Novak: Silvatica, 1997) und antike Sagenwelt (Christa Wolf: Medea. Stimmen, 1996; Botho Strauß: Ithaka, 1996) zeigen am Ende eines Jahrtausends Bestands­aufnahmen, Fluchtversuche und Zukunftspessimismus.

Mit Nachwuchsautoren wie Benjamin Lebert, Thomas Brussig, Thomas Lehr, Karen Duve, Judith Hermann, Zoe Jenny und Benjamin von Stuckrad-Barre - im Spiegel (41/Okt. 99) als „die Enkel von Grass & Co." bezeichnet - scheint sich gegenwärtig ein Aufbruch in der deutschen Literatur abzuzeichnen. Die Werke dieser neuen Dichtergeneration finden bei Publikum und Literaturkritik im In- und Ausland großen Anklang. Die die deutsche Literatur seit 1945 dominierenden Themen wie die deutsche Schuld, Anklage und Selbstanklage bleiben hier außen vor, stattdessen gehen diese jungen Autoren ihrer ureigensten Aufgabe nach: Lustvoll und unbekümmert erzählen sie Geschichten und eröffnen so einen neuen Blick auf den Menschen und die Welt.